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Hier und JetztAïcha hat einiges erlebt: Als Adoptivkind nach Frankreich gekommen, ist sie dort in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Heute lebt sie auf Mallorca und hat sich voller Konsequenz in das Abenteuer Malerei gestürzt. Ihre Bilder sind unmittelbar, unverstellt - sie sind, was die Biografie der Künstlerin anbelangt, geprägt von einer tiefen Authentizität, die die BetrachterInnen zum Eintauchen in ihre Lebensumstände einlädt. Lebensgroß begegnen einem die Figuren auf den großformatigen Bildern jüngeren Datums, die den Dialog mit uns auf Augenhöhe suchen. Aïcha malt sich ihre Geschichte von der Seele. In ihrer Bilderwelt kehrt sie zurück in ihre Kindheit und Jugend, meistert sie die Dinge des alltäglichen Lebens, orchestriert sie die kleinen Geschichten. Und doch ist im Hintergrund stets etwas Bedrohliches, fast eine düstere Stimmung zu erahnen. Der Bildaufbau wirkt dabei klassisch, die Interaktion der Bildgegenstände ist formal völlig souverän konzipiert, die Motive teilen sich bei der Betrachtung unmittelbar mit. Aïcha könnte eine herausragende Akteurin der Art Brut gewesen sein, doch sie malt im Hier und Jetzt, so dass ihre gewaltige Bildsprache ist nicht anders als sensationell zu nennen ist.
Einer der ungewöhnlichsten Protagonisten der Fotoszene im RheinlandChristopher Muller, der seit 2009 eine Professur für künstlerische Fotografie an der Folkwang Universität innehat, ist seit Mitte/Ende der 1990er Jahre war er einer der ungewöhnlichsten Protagonisten der Fotoszene im Rheinland. Mit Kunstpreisen etwa des Kunstfonds Bonn 1995 oder der Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung 2004 hat der in London aufgewachsene, am Camberwell College of Arts & Craft, der Slade School of Fine Art in London und schließlich an der Kunstakademie in Düsseldorf ausgebildete Künstler in der Szene einen Platz gefunden. Dabei hat ihn stets seine spezielle Herangehensweise ausgezeichnet, die ihn von den KollegInnen unterscheidet. Er kommt vom Stillleben, und hat mit seinen seriell wirkenden Objektfotografien in den 1990er Jahren entsprechend für Aufsehen gesorgt. Seine jüngst entstandenen fotografischen Collagen sowie die zusehends einen breiteren Raum einnehmenden Aquarelle thematisieren das Verhältnis der Dinge zueinander und zugleich unsere Sicht auf sie. Die Bilder verdeutlichen, dass die BetrachterInnen in ein komplexes Gewebe von Gefühlen, Vorlieben und Abneigungen verwickelt sind, die auch von ihren Erwartungen und Handlungen im Alltag bestimmt werden.
Was tun wir nur den Schweinen an?Im Zentrum des Projekts »Ocular Witness: Schweinebewusstsein« stehen Fragen nach dem Selbst- und dem Weltverhältnis des Menschen. Es werden Problemkomplexe von globaler Relevanz aufgeworfen, wenn das Verhältnis zum Schwein zur Sprache kommt. In einen kollektiven Rechercheprozess eingebunden, beteiligen 14 KünstlerInnen an Ausstellung und Buch, iwobei sie verschiedene ästhetische Verfahren und künstlerischen Strategien anwenden, um sich jeweils eines Teilaspekts des Themas anzunehmen. Gedanklich miteinbezogen sind Projekt wie das »Haus für Schweine und Menschen« von 1997, realisiert von Carsten Höller und Rosemarie Trockel, oder auch »Lebensmittel« (2012) von Michael Schmidt. Über die Präsentation im Sprengel Museum hinaus sollen die entstandenen Werke als flexible Module funktionieren und auch an anderen Orten zum Einsatz kommen, etwa in lokalen Gemeindezentren, Landgasthöfen, Heimatvereinen und Landfrauenvereinigungen. Das Projekt an Überlegungen von Alan Sekula anknüpft, mit Mitteln der Kunst ebenso konkrete wie komplexe politische Fragestellungen zu bearbeiten und zur Diskussion zu stellen.Ausstellung:Sprengel Museum Hannover, 23/8 - 5/11/2023
Gregor Schneider Preisträger Ernst Franz Vogelmann-Preis für Skulptur 2023Den Räumen nie entkommen zu können, weil sie gesellschaftlich und durch Tabus aufgeladen sind, weil sie neben ihrer physischen auch eine psychische Wirkung entfalten, kennzeichnet die künstlerische Haltung von Gregor Schneider. Gregor Schneider, 1969 in Rheydt geboren, ist 2001 mit »Totes Haus u r« schlagartig einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, nachdem die Arbeit auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden war. Nun erhält er, nach Roman Signer, Franz Erhard Walther, Thomas Schütte, Richard Deacon und Ay¿e Erkmen, den Ernst Franz Vogelmann-Preis 2023 für Skulptur. Der seit 2016 an der Kunstakademie Düsseldorf lehrende Künstler »schaut hinter die Fassade der Dinge und definiert nebenbei die Begriffe Bildhauerei und Installation neu«, begründete die Jury ihre Wahl. Und in der Tat, seine biografisch fundierte Agenda bildet den irritierenden Ausgangspunkt seiner Arbeiten, die die BesucherInnen zu handelnden AkteurInnen werden lassen.Ausstellung:Kunsthalle Vogelmann, Heilbronn, 15/7 - 29/10/2023
Die Form im Dienst des InhaltsDie Installationen der in Berlin lebenden Künstlerin Sung Tieu (*1987 Hai Duong, Vietnam) beschäftigen sich mit dem wechselseitigen (Zwangs-) Verhältnis von Bürokratie und Identität. Ausgangspunkt ihrer Arbeiten bilden ihre Recherchen über das Anwerbeabkommen für vietnamesische VertragsarbeiterInnen in der ehemaligen DDR. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografie begann sie sich mit den komplexen soziopolitischen Hintergründen dieses spezifischen Migrationskontextes zu beschäftigen. Es überlagern sich darin Aspekte des Arbeitsregimes, der Regulierung von Wohnraum und der Kontrolle der Privatsphäre. Diesen migrationspolitischen und ökonomischen Zusammenhängen spürt Sung Tieu in ihrer Archivarbeit systematisch nach und verdichtet ihre Forschungsergebnisse in Rauminstallationen, die Objekte, architektonische Interventionen, Dokumente, Zeichnungen, Videos und Toneinspielungen miteinander kombinieren, zu atmosphärisch eindrucksvollen audiovisuellen Erzählungen. Formalästhetisch sind ihre Arbeiten an Minimal Art und Konzeptkunst angelehnt. Was zunächst im Widerspruch zum politisch-narrativen Ansatz der Künstlerin zu stehen scheint, repräsentiert jedoch eine Form des kritischen Engagements, das den konventionellen Glauben an die Autonomie der Kunst und ihrer Interpretation auf die Probe stellt. Für Tieu steht die Form im Dienst des Inhalts. Das zeigt auch die Gestaltung dieser Publikation, die einen Teil von Tieus Recherchematerial und Archivalien sowie ihre gesamten Serien bürokratischer Dokumente in einer strengen Rasterstruktur reproduziert. Kunsthistorische Essays und ein Interview mit der Künstlerin geben uns zusätzlich Auskunft über weitere wichtige Einflüsse und Bezüge ihres Kunstschaffens.Ausstellungen:Kunst Museum Winterthur, 16/9 - 19/11/2023Kunsthalle Nürnberg, 9/3 - 9/6/2024
Die verlorenen ParadieseDie Gesichtslosigkeit der Protagonisten in den Bildern von Josef Zekoff ist eines ihrer herausragendsten Merkmale. Ob es sich nun um ezeichenhafte Labyrinthe handelt - er malt auch Ornamente und Landkarten - oder um gezeichnete Strichmännchen, der Zwischenraum, den diese Bilder besetzen, fordert zur Selbstreflexion auf, für welche die BetrachterInnen allerdings Mut aufbringen müssen. Oder wie es Florian Waldvogel in seinem einführenden Text schreibt: »Suchen die Protagonisten seiner Bilder die Begegnung mit etwas, das über die Welt der Gegenstände und festen Größen hinausgeht? Geht es, wie Martin Heidegger in ›Was ist Metaphysik?‹ schreibt, um eine Begegnung mit dem ›Nichts‹ in der ›Angst‹? Verweist die Konfrontation mit dem ›Nichts‹ in Zekoffs Bildern auf unsere Angst angesichts der ursprünglichen Sinnlosigkeit der Welt, auf den Fakt, dass es das Dasein ist, welches die Bedeutungen den Sachen zuschreibt?« Die Weltlichkeit der Welt liege nach Heidegger in dieser Leere, und Zekoffs Figuren spürten, anders als die BetrachterInnen, keine Angst vor dem Nichts. Doch wie in der Jakobinertragödie brauche die Furcht das Bewusstsein des Verlusts, um überleben zu können. Gemäß Marcel Proust, so schließt Florian Waldvogel, seien die wahren Paradiese diejenigen, die verloren gegangen sind.Ausstellung:CFA Contemporary Fine Arts Berlin, 1/7 - 5/8/2023
Pop-AntizipationenChrista Dichgans lebte in einer Männerwelt, zunächst mit Karl Horst Hödicke verheiratet, folgte ihm 1972 der renommierte Galerist Rudolf Springer. Sie war mit Markus Lüpertz und A. R. Penck befreundet und assistierte Georg Baselitz während seiner Professur in den 1980er Jahren an der Hochschule der Künste in Berlin. Die, wie sie später auch genannt wurden, deutschen Malerfürsten, die im Laufe ihrer Karriere zu bedeutenden künstlerischen Individualisten avancierten und der jüngeren Generation der Jungen Wilden die figurative Expression lehrten, waren unverzichtbare Dialogpartner für Christa Dichgans. Ihre Rolle beschrieb sie so: »In den Sechzigern fühlte sich kein Mann von mir bedroht. Sie fanden, dass ich hübsch sei und spooky, meine Kunst nahmen sie nicht wirklich ernst.« Bereits in der ersten Hälfte der 1960er Jahre entwickelte Christa Dichgans in ihrem frühen Werk im Kern eine Bildformel, die den Vertretern des Kapitalistischen Realismus - Sigmar Polke, Gerhard Richter, Konrad Lueg und Manfred Kuttner - in nichts nachstand.Ausstellung:CFA Contemporary Fine Arts Berlin: 18/3 - 22/4/2023
Wie beeinflusst der Zufall das Werk?Das Wichtigste beim Malen sei es, den Kopf auszuschalten, sich führen zu lassen, sagt die deutsch-chinesische Malerin Yafeng Duan, die 1973 in Hebei geboren wurde und heute in Berlin lebt. Wie beteiligen sich die Farben, wie verhalten sich Leinwand und Papier, wohin führt der Pinsel die Hand? Leicht und dicht, hell und dunkel, innere und äußere Welt, breiter Pinselduktus und feine Linien in der Tradition der Tuschmalerei, Widerstand und Fluss, massive Flächen und schwebende Farben. Das alles entspreche zudem, so Duan weiter, dem Takt des Ein- und Ausatmens. Hinzu tritt der Zufall, der sich ohne esoterische Konnotationen ins Spiel bringen lässt, wie etwa im Fall der Kompositionstechnik von John Cage, der das »I Ging« als strukturbildendes Prinzip heranzog. Die Formvorstellungen sind daher stets auch mit Verfahrensfragen verknüpft: Wie beeinflusst der Zufall das Werk, wieviel Zufall tut diesem gut? Dem Taoismus entstammend, werden dann fast zwangsläufig die Prinzipien Yin und Yang aufgerufen. Ursprünglich standen diese Begriffe für die »Dunkelheit am Südufer des Flusses«, für einen »schattigen Ort« (Yin) beziehungsweise, konträr dazu, für das »Strahlen der Sonne, die sonnige Anhöhe auf der Südseite der Berge« (Yang). Zu Yafeng Duans abstrakter Malerei heißt es denn auch, sie schaffe Räume, die sich erst bei längerer Betrachtung aufschließen lassen, nicht alle würden bestehen bleiben, manche sich vielmehr verformen oder gar ganz auflösen.Ausstellung:Galerie Michael Janssen, Berlin, 27/1 - 18/3/2023
Selten war ein Quellenstudium so amüsantDas Werk von Peter Zimmermann ist vielfältig. Ende der 1980er Jahre dominierten die sogenannten Book Cover Paintings - der Kölner Künstler malte Buchtitel von Atlanten, Kunstbüchern, Reiseführern und Wörterbüchern mit Epoxid auf Leinwände. In seinen Kartonobjekten arbeitete er dann mit räumlichen Verzerrungen von Schrift und Bild, thematisierte dabei Loops und deren Wechselwirkungen. Dem folgte die erfolgreiche Serie farbenprächtig glänzender Leinwände mit reiner abstrakter Formenmalerei, wobei der Künstler digitale Vorlagen, Fotos, Filmstills oder Diagramme zunächst mittels grafischer Algorithmen verfremdete und dann in zahlreichen transparenten Epoxidharzschichten auftrug. Seit 2014 hat Peter Zimmermann, getreu diesem Ansatz, verstärkt wieder auf Ölmalerei gesetzt und wogende, in leuchtende Farben getauchte Meere voller Tentakeln geschaffen. Für den neuen 2023er-Band der Kienbaum Artists' Books mit dem Titel »swipe« hat der Künstler jetzt seinen Fundus durchstöbert und seine Quellen wie auch seine Arbeiten zu einem wilden Potpourri verdichtet. Die Analogien, die dabei zutage treten, sind Hinweise auf eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Original und Abbild und mit dem Begriff der Oberfläche. Selten aber war ein autodidaktisches Quellenstudium auch so amüsant.
Es beginnt in einer Sprache»Dinge und Bilder erzählen jeweils in eigener Form. Es beginnt in einer Sprache vom Sehen, die den Verstand und die Sinne berührt, um sich dort zu verzweigen. Eine Verbindung entsteht, die umfasst, was die Betrachtung erfindet. Während Gegenwärtiges und Erinnertes das augenscheinlich Unerklärliche reflektieren, entsteht ein Bild der individuellen Wahrnehmung. Immer weiter wächst eine Erzählung, gespeist von kleinen visuellen Eigenheiten und unerhörten Beobachtungen.« Dies schreibt Michel Sauer selbst über seine Arbeiten. Der Künstler, 1949 geboren, studierte in Karlsruhe bei Horst Antes und Emil Schumacher, erhielt 1972 den Kunstpreis Junger Westen, war 1980 Stipendiat der Villa Massimo, wurde 1994 mit dem Villa Romana Preis ausgezeichnet und lehrte anschließend von 1994 bis 2014 an der Universität Siegen. Der hier vorliegende Band präsentiert einen Überblick zu seinem Schaffen von den 1970er Jahren bis 2022. Dabei sei es, so die Herausgeberin Eva Schmidt, die plastische Arbeit, die im Zentrum des Interesses des Künstlers stehe. Michel Sauer habe seine plastische Arbeit immer als abstrahierende Wahrnehmung einer Verbindung von Improvisation und handwerklicher Auseinandersetzung mit den Materialien Holz, Zink, Kupfer und Messing betrachtet. Das habe ihn auf seiner Suche nach der Einheit von Vorstellungs- und Erinnerungsbildern beflügelt - einer Einheit, die sich im medialen Wechselspiel von Poesie und ihrer immer möglichen »Materialisierung« realisiert.Ausstellung:annex14, Zürich, 24/2 - 1/4/2023
»Nabel zur Welt«Der White Cube hat nach dem Zweiten Weltkrieg den Status einer ästhetischen Konvention erlangt. Das im Buch eindrucksvoll präsentierte Atelier von Dagmar Varady vermittelt demgegenüber den Eindruck, sich sowohl an einem Ort, wo Kunst produziert wird, als auch in einem »Ausstellungsraum« zu befinden. Ihre Arbeiten sind denn auch nicht als abgeschlossene Werke oder Bilder zu betrachten, sondern befinden sich »permanent in Bewegung«, wie die Künstlerin betont. So entstehe im Studio eine persönliche (Wissens-) Ordnung im Kontext der Kunst, so etwas wie »Prinzipien im Chaos«, wobei dann auch der gesteuerte Zufall (Serendipity) mit ins Spiel kommt, wie man es an den Strukturen, Faltungen und Verläufen in ihrer Serie der »Brilliant-Blue«-Bilder gut beobachten kann. Mit all den in ihrer Kunst auftretenden Brüchen, Abweichungen, Intuitionen, Ausnahmen und Ambiguitäten hat sich Dagmar Varady auf den »Weg der Absichtslosigkeit« (Ernst Bloch) begeben - eine Absichtslosigkeit, die das Prozesshafte der Kunst befördert, die wiederum ohne verstetigten Ort der Produktion, das Atelier, nicht zustande käme. Und so mäandern dort Motive in einem unbestimmten Produktionsprozess von Bild zu Bild, treten in Dialog miteinander und verwandeln sich proteushaft in immer neue Varianten. Insofern ist Dagmar Varadys Atelier nicht einfach nur ein Arbeitsort, sondern, wie die Künstlerin selbst es nennt, ihr »Nabel zur Welt« und als solcher eine Art Labor, in dem intrinsische Prozesse die künstlerische Haltung und Programmatik wesentlich mitbestimmen.
Wenn tausend Blüten den Fasan erklimmenAustin Eddy formuliert in seinem malerischen Werk Widersprüche, greift auf kubistische Traditionen zurück und sucht die Balance zwischen Figuration und Abstraktion. Seine figurativen Elemente falten sich zu nächtlichen Landschaften, Gebäude werden zu isolierten Ansichten scheinbar klaustrophobischer Räume, schwebende Wolken ähneln knolligen Fingern - und alle sind zugleich Porträts, Stillleben und Landschaften. Austin Eddys Werk verweist formal und konzeptuell auf die amerikanische Moderne, das Besondere an ihm aber beschreibt niemand besser als der Künstler selbst: »Ich denke, die Gemälde versuchen ständig, einen Weg zwischen Realität und Abstraktion zu finden. Ich bin daran interessiert, die Grenzen auszuloten, wie weit man die Konversation zwischen beidem ausdehnen kann. Die Gemälde haben ihre Wurzeln in Erzählungen aus dem richtigen Leben, sind aber nicht notwendigerweise daran gebunden, die Realität zu repräsentieren. Um sie an die Erde zu binden, versuche ich, die Zeit zu nutzen. Das Licht spielt eine entscheidende Rolle, wenn man verstehen will, wie diese Bilder funktionieren. Nicht nur im Sinne der Tageszeit, sondern auch im Hinblick auf die mögliche Dauer eines Ereignisses. Der Versuch, einen Nachmittag in einem Moment einzufangen - oder die Hektik des Fliegens in der Stille eines Bildes - reizt mich besonders. Da ich darauf aus war, die Bildsprache zu vereinfachen, finde ich es wichtig, dass sie durch die Farbe der entsprechenden Zeit in die natürliche Welt zurückgeholt werden.«Ausstellungen:Académie Conti, Le Consortium, Dijon 3/7 - 9/10/2022Knust Kunz Gallery Editions, München, 29/9 - 12/11/2022
»Schulze gehört zu dieser Handvoll großer Namen«So resümiert Daniel Schreiber in seinem Text. ON STAGE, das ist der Titel der Schau von Andreas Schulze, mit der er die Kunsthalle Nürnberg zur Bühne für seine surrealen Bildwelten werden lässt. Immer wieder trifft die große schillernde Welt des Entertainments auf triviale Alltagsästhetik, kollidieren kunsthistorische Bezugnahmen mit banalem Zierrat und Nippes. Stoßstange an Stoßstange drängen sich großformatige Bilder brav wirkender Karosserien zum Foto für eine Klapptafel mit raumfüllendem Stau. Doch führt uns Andreas Schulze an der Nase herum, seine Bilder von Mobilität, Fortschritt, Dynamik und Status sehen fast kindlich aus. Für die Absurditäten unseres Alltags hat der Künstler schon immer einen besonderen Blick gehabt. 1989 sagte er noch, die Avantgarde bewege sich zwischen zwei Extremen: Intellektualität und grobe Banalität. Er dagegen habe stets das bürgerliche Mittelmaß gesucht. Mit einem amüsierten Achselzucken zitiert er es seitdem: Amorphe Röhren, wulstige Objekte, stilisierte Wellen, Lichtpunkte, nebelige Flächen und Abgaswölkchen formieren sich in eigentümlichen Landschaften. Backsteinwände, Veloursteppiche, Stehlampen, Gummibäume und allerlei Alltagsobjekte sind Bühne für Vertrautes, das auf einmal fremdartig erscheint und sich mit Humor und Abgründigkeit verbindet. Denn vieles, was zunächst unbekümmert erscheint, repräsentiert eben nicht die visuelle Wohlfühlzone. Andreas Schulzes bildnerisches Konzept ist banal und rätselhaft, eigenartig, aber bei aller Vertrautheit erzeugt es unterschwelliges Unbehagen.Ausstellungen:Kunsthalle Nürnberg, 5/11/2022 - 12/2/2023The Perimeter, London, 17/3 - 1/7/2023
Das Geplante scheitert, das Hingeworfene wird angenommenAdriano Sack: In deinem neuen Film »Inizio« hälst du ein Schild hoch mit der Aufschrift »Paradies«. Welche Vorstellung spielt das Paradies in deinem Werk und deinen Träumen?Erik Schmidt: Der Versuch, das Leben als Paradies zu inszenieren ist ein wichtiger Antrieb bei mir. Wenn ich irgendwo hingehe, empfinde ich diese totale Faszination, selbst wenn es nur ein Palmenstrand ist. Das Paradies im religilösen Sinn ist natürlich nicht gemeint. Eher der Zustand der Glückseligkeit auf Erden.AS: Du hast Inizio im Garten der Villa Massimo in Rom gedreht. Was bedeutet dir dieser Ort?ES: Es ist ein sehr schöner Garten. Aber der Film spielt nicht bei der Villa Massimo, sondern an einem nicht definierten Ort. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war Italien im Lockdown, wir brauchten einen privaten Rückzugsort.AS: Es gibt zum ersten Mal in einem deiner Filme eine Art Alter Ego, den jungen Schauspieler Christian Erdt. Gibt es für den älteren Künstler keinen »Inizio«?ES: Nein. Oder doch. Den Neuanfang gibt es, aber es gibt kein Zurück. Mir passt das Kleid nicht, in das der andere schlüpft. Ich muss da weitermachen, wo ich bin.…AS: »Inizio« ist das Ergänzungsstück zu dem Film »Fine«, den du in Olevano bei Rom gedreht hast. »Ich bin ein Mann von Welt«, beginnt der Film, während der Darsteller auf ein Totenhaus zuschreitet. Was bedeutet dieser Gedanke in einem kleinen italienischen Bergstädtchen wie Olevano.ES: Passt doch. Denken Menschen in kleinen Städten nicht immer, dass sie Männer von Welt sind? Wer wirklich einer ist, würde das ja gar nicht denken.AS: In »Fine« übergießt sich der Künstler mit Öl. Das ist ein wiederkehrendes Motiv in deinen Filmen. Ständig wird sich aus- oder angezogen, dein Körper wird gebadet, massiert oder übergossen. Was hast du noch nicht mit dir gemacht?ES: Keine Tätowierung. Keine Löcher. Nichts, was bleibende Schäden hinterlässt.…AS: Du hast den westfälischen Mischwald, Olivensträucher in Israel, Palmen in Asien gemalt. Gibt es einen Zusammenhang?ES: Es gibt einen formalen und strukturellen Zusammenhang. Pflanzen haben immer ein Zentrum. Bei den Palmenbildern habe ich das auf die Spitze getrieben: Sie sind quadratisch und in der Mitte ist die Nuss. Darüber hinaus aber bin ich beim Malen von Bäumen unheimlich frei. Bei einem Porträt ist man dem Gesicht noch irgendwie verpflichtet. Bei der Natur kann das keiner nachvollziehen. Zumal bei der Übermalung von Fotografien. Da kann ich als Maler völlig frei agieren. Das ist fast wie bei Action Painting: Ich werfe Farbe, sie läuft und tropft. Die Palme auf meinen Gemälden ist schon auch ramponiert. Aber sie bleibt erkennbar.…(Drei kurze Auszüge aus dem Interview von Adriano Sack mit Erik Schmidt)Ausstellung:Kunstraum Potsdam, 18/9 - 30/10/2022
The Emergency Will Replace the ContemporaryIm September 2020 konzipierte der in Kopenhagen lebende Künstler Thierry Geoffroy / Colonel, geb. 1961 in Nancy, Frankreich, THE AWARENESS MUSCLE TRAINING CENTER im Museum Villa Stuck in München. Im Anschluss an dieses intensive partizipatorische Ausstellungsprojekt entstand die Idee, die erste umfassende Monografie zum facettenreichen Werk des Künstlers in den letzten vierzig Jahre zu erstellen. Die Publikation umfasst alle künstlerischen Formate, darunter die prominentesten - Emergency Room, Critical Run und Biennalist -, die in der ganzen Welt realisiert wurden. Ebenso beleuchtet werden die mit Colonels Aktivitäten verbundenen physischen Kunstwerke, die von Fotografie über Bewegtbilder bis hin zur Malerei reichen. Weiteres Element der Publikation ist eine vollständige Chronologie, die Geoffroys künstlerischen Aktionsradius dokumentieren. In den begleitenden Texten geht eine internationale Autorschaft auf die verschiedenen Aspekte des Werkes ein und erläutert, wie seine künstlerische Praxis mit konzeptuellen Mitteln sowie ortsspezifischem Ansatz die Aufmerksamkeit auf Manifestationen der Macht und der Ungerechtigkeit lenken.
Dóra Maurer nimmt eine Sonderstellung einDóra Maurer (*1937, lebt in Budapest) gilt als prominente Vertreterin der Neo-Avantgarde. Sie gehört damit zu den KünstlerInnen, die seit den 1960er Jahren progressive Wege jenseits der offiziellen staatlichen Kulturpolitik Ungarns beschritten haben. Ihre Arbeiten, die Grafik, Fotografie, Film, Aktionskunst und Malerei umfassen, zeigen klare konzeptuelle Herangehensweisen, wobei als die zentralen Aspekte Wahrnehmung, Bewegung, Verschiebung und Transformation zu nenen sind. Die Abstraktion, insbesondere diejenige der frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland, kann heute als eine politische »Bereinigung« eingestuft werden, stand sie doch stellvertretend für die »offene Gesellschaft«. Entsprechend sind zahlreiche Sammlungen in deutschen Museen ausgerichtet, darunter auch die der Kunsthalle Bielefeld (Ausstellung von Dóra Maurer in Bielefeld: 29/1-15/5/2022). In ehemaligen Ostblockländern wie Ungarn aber, hatte die Abstraktion eine »oppositionelle« Konnotation. Durch die Nicht-Gegenständlichkeit ihrer Arbeiten, die im Gegensatz zur offiziellen Vorgabe des Sozialistischen Realismus stand, nimmt Dóra Maurer eine Sonderstellung ein. Verstärkt wurde das durch ihre Kontakte und Reisen in den Westen, die für sie aufgrund ihrer doppelten ungarischen und österreichischen Staatsbürgerschaft schon vor 1989 möglich waren. Ihre Experimente in den Medien Fotografie und Film in den 1970er Jahren sowie ihre auf prozessualer Verschiebung beruhenden abstrakt-geometrischen Arbeiten weisen eine offensichtliche fomale Parallelität zur Nachkriegskunst Westeuropas und der USA auf. Tatsächlich jedoch sind ihre Arbeiten ohne die Erfahrung des Lebens unter dem kommunistischen Regime nicht zu denken.
Anselm Reyle in HeilbronnAnselm Reyle gehört zu den international renommiertesten deutschen KünstlerInnen seiner Generation. In Tübingen geboren und in Heilbronn aufgewachsen, wird er nun die gesamte Kunsthalle Vogelmann bespielen. Die Liste seiner Ausstellungsorte liest sich wie das Who's Who der Kunstwelt: von der Kunsthalle Zürich bis zum Palazzo Grassi in Venedig, von den Deichtorhallen Hamburg bis zur Kunsthalle Tübingen. Seine Kooperationen, z. B. mit Dior für eine exklusive Handtaschenserie, sind legendär. Auf verblüffende Weise mischt Anselm Reyle Stile, Farben und Materialien, arbeitet mit Autolack, PVC- und Spiegel-folie, Sprühfarbe, LED-Leuchten, Beton oder Ton. Fundstücke als Ausgangsmaterial spielen in seinem Werk immer wieder eine herausragende Rolle, wobei es sich dabei ebenso um Elemente aus den Werken anderer KünstlerInnen wie um Alltagsobjekte, Architekturen oder auch um Design handeln kann. Entsprechend bestimmen Reflexion, Aneignung, Um- und Neuformulierung seine Arbeitsweise. Die BetrachterInnen verfangen sich denn auch im überraschenden Beat gegensätzlicher formaler wie materieller Samplings, in denen sich das gesamte Bildrepertoire moderner abstrakter Bildfindung wiederfindet. Das geplante Buch wird die in Heilbronn vor Ort entstehenden raumgreifenden Wandarbeiten zeigen, die neueste Werkserie mit Bildern auf Sackleinen präsentieren und auch einen Blick auf Anselm Reyles früheres Schaffen werfen.Ausstellung:Kunstverein Heilbronn, 8/7 - 23/10/2022
Die Sammlung war zu Beginn nicht als eine solche geplant»Die Sammlung war zu Beginn, wie es mit den meisten Sammlungen so ist, nicht als eine solche geplant. Es ging darum, sich mit Unbekanntem, Unverständlichem zu beschäftigen und zu umgeben. Es ging um die Faszination des Handwerks und darum, dieser Faszination in der eigenen Wohnung Raum zu geben, um sich des ständigen Reizes des Lebens bewusst zu bleiben. Hereingeholt hat sich der Sammler die Tiefen des Unbewussten, der Philosophie, der Maltechnik, und er hat sich damit zugleich das wilde umtriebige Berlin in die eigenen beschaulichen vier Wände geholt. Begeben wir uns auf die Spurensuche dieser Sammlung, folgen wir den verschiedenen (un)zuverlässigen Erzählenden. Mögen diese Erzählenden Sammelnde sein, Galeristinnen, Autoren oder Betrachtende - was bleibt, sind ihre Geschichten. Geschichten von Ein-Tages-Ausstellungen für dänische ThronanwärterInnen mit anschließendem Gelage oder von gerade so für die Ausstellung fertigen Bildern, die es nicht mehr in den Ausstellungskatalog geschafft haben - wg. Redaktionsschluss. Geschichten von Bildern, die nach Ankauf für die eigene Wohnung erst einmal über Jahre in Museen verschwinden, von rauschenden Partys nach und vor Eröffnungen, einfach so … Das Metaphysische der Kunst ist zeitlos und gerade deshalb Zeitmaschine, einzelne Kunstwerke hingegen sind es nicht. Sie sind immer Ausdruck einer Zeit, ob sie es wollen oder nicht, und erzählen deshalb auch die Geschichte ihrer Zeit: ihre Entstehungsgeschichte, eine Ausstellungsgeschichte, eine Sammlungsgeschichte, eine Preisgeschichte. Auch diese Sammlung erzählt eine spezielle Zeitgeschichte. Möchte man erneut einer unzuverlässigen Erzählerin folgen, so erzählt diese Sammlung von einem Berlin der 1990er und 2000er Jahre, in dem so vieles möglich war, weil es große Räume für wenig Geld gab. Die Sammlung erzählt eben auch von Hinterhofgalerien, improvisierten Projekträumen, die später zu Institutionen wurden und vom ›Club Berlin‹, der Partys mit Kunst, Techno mit Politik zusammenbrachte.« Katharina HajekKünstlerInnen:John Baldessari, Carol Bove, Louise Bourgeois, Marc Bradford, Nathalie Djurberg, Marlene Dumas, Marcel Eichner, Günther Förg, Theaster Gates, Adrian Ghenie, Nan Goldin, Thomas Hirschhorn, Jenny Holzer, Thomas Houseago, Mike Kelley, Martin Kippenberger, Sherrie Levine, Jonathan Meese, Gabriele Orozco, Rymond Pettibon, Sigmar Polke, Richard Prince, Janne Räisänen, Anselm Reyle, Jason Rhoades, Daniel Richter, Gerhard Richter, Gregor Schneider, Dana Schutz, Cindy Sherman, Dash Snow, Philip Taaffe, Tal R, Kara Walker, Wawrzyniec Tokarski, David Weiss & Peter Fischli, Rachel Whiteread, Marlon Wobst
IF NOT NOW WHEN?Barthélémy Toguo (*1967) stellt in seiner künstlerischen Praxis hoch aktuelle Fragen zu Identität und gesellschaftlicher Zugehörigkeit und thematisiert Migration, Flucht, Vertreibung und jene Einschränkungen, die sich durch territoriale Grenzen und Hoheitspolitik ergeben. Vor dem Hintergrund seiner doppelten kame- runisch-französischen Staatsbürgerschaft nimmt er eine explizit anti-eurozentrische Haltung ein. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Ursachen ökologischer Verwerfungen und deren gesellschaftliche Konsequenzen. Stichworte in diesem Zusammenhang sind: Trink- und Brauchwassermangel, Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft, Auswirkungen der Klimaveränderung, Korruption, Krieg, mangelnde ökonomische Entwicklungsperspektiven etc. In seinen Arbeiten, seien sie der Malerei, Zeichnung, Skulptur, Performance oder Installation zuzurechnen, verbindet er das Humane mit der Natur: »Was mich leitet, ist eine sich ständig weiterentwickelnde Ästhetik, aber auch ein Sinn für Ethik, der einen Unterschied macht und meinen gesamten Ansatz strukturiert.« Das Buch zeigt eigens für die Esslinger Ausstellung neu entstandene Werke, Remakes sowie adaptierte Installationen. Zudem präsentieren Buch und Ausstellung eine kleine retrospektive Übersicht zum Werk des Künstlers.Ausstellung:Villa Merkel Galerie der Stadt Esslingen, 7/8 - 23/10/2022
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