Om Amnesia
Statt auftragsgemäß die eheliche Treue einer Dame aus Bruxelles guter Gesellschaft zu überwachen, ist Kommissar a.D. Lijnen im "Jardin du Soir" einem Verbrechen auf der Spur, dessen verschlungenes Astwerk sich täglich mehrt. Auf den ersten Blick teilen die Bewohner des renommierten Seniorenheims nur das Schicksal des Alterns. Robert Dubois und Emilie Duprez, ein ungleiches Paar in vieler Hinsicht, erlebt die freudlosen Aspekte des Vergessens auch versöhnlich. Doch in der geschlossenen Abteilung des "Jardin" geschehen Dinge, die der Institution unwürdig sind. Deren Aufklärung prallt auf das Dickicht der Demenz. Umso bedeutender wird für denjenigen, der sie verstehen möchte, der Einfluss eigener Inhalte. Der ungewöhnliche Kriminalroman wirft nicht nur ein kritisches Licht auf die Betreuung des alten Menschen und die pharmazeutische Forschung. Esprit bereichert die Handlung. Entsprechend sorgfältig sind die Charaktere gezeichnet, und die psychologischen Mechanismen, denen sie unterworfen sind. So tritt in der Figur des Kommissars die Bedeutung der Projektion zutage. Sie wird zum primum movens einer Geschichte, die sich nicht nur äußerlich abspielt, sondern zum Psychothriller im eigentlichen Sinn wird. Und von Lin Tse Yung, einem exotischen Insassen des "Jardin", erfahren wir in einer kaum verschleierten Hommage an C.G.Jung, was Taoismus und Alchimie mit der analytischen Psychologie verbindet. Wie immer in Jorge di Raffi's Romanen überlappen Traum und fassbare Realität. Was das Unbewusste der Akteure nachts ausdrückt, ergänzt, was sie tagsüber erleben. Die Demenz lässt Traum und Realität kaum noch unterscheiden. Was von "Amnesia" haften bleibt, hängt letztlich vom Leser ab. Ein Krimi, der sich bloß konsumieren lässt, ist es keinesfalls.
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